„Ein Kopf voll Gold“ Buchvorstellung und unser Leben(reisen) mit neurodivergenten Kindern

Die Lehrerin und Bildungsaktivistin Saskia Niechzial, im Internet als liniertkariert schon lange unterwegs, hat wieder ein wunderbares Buch geschrieben: “ Ein Kopf voll Gold -Was neurodivergente Kinder brauchen und wie wir sie stärken können“. Ein Buch was Eltern und sonstigen Begleitern von neurodivergenten Kindern eine ganz große Stütze und Hilfe sein kann und bisher wirklich gefehlt hat.

Neurodivergent was bedeutet das?

Wie die autistische Aktivistin Kassiane Asasumasu sagt:

„Neurodivergent bezieht sich auf neurologisch abweichend von typisch. Das ist alles.“

Was heißt das nun genau?

Neurodivergent, bedeutet, dass das Gehirn in einer Weise funktioniert, die erheblich von den gesellschaftlichen Normen, dem vorherrschenden“Normalen“ abweicht. Menschen die neurologisch nicht der Norm entsprechen, also nicht neurotypisch sind machen 15-20% der Bevölkerung aus.

Beispiele für neurodivergente Formen:

  • Legasthenie
  • ADHS
  • Autismusspektrum
  • Dyskalkulie
  • Hochbegabung
  • Dyspraxie
  • Epilepsie
  • Down Syndrom
  • Tourette Syndrom

Wie man sieht die Bandbreite ist groß, es gibt auch keine fertige Liste. An den oben genannten Beispielen sieht man auch es gibt genetische bedingte, angeborene Formen wie Autismus, Legasthenie usw. oder erworbene wie Epilepsie oder durch Verletzungen oder Krankheiten verursachte Formen. Es geht weder um eine Pathologisierung noch soll gegen eine mögliche therapeutische Behandlung wo möglich z. Bsp. Epilepsie gehen. Es geht darum kein weiteres Instrument der Ausgrenzung sondern das Gegenteil ein Instrument der Eingliederung zu haben. Neurodiversität ist die Vielfalt wie Gehirne Reize verarbeiten können und diese Vielfalt ist gross und sollte genutzt werden, daher finde ich den Buchtitel:“ Ein Kopf voll Gold“ auch so wunderbar.

Neurodivergente Gehirne funktionieren einfach anders wie“normale“ doch auf dieses „Normal“ ist unsere Gesellschaft aufgebaut und damit stoßen neurodivergente Menschen oftmals an Grenzen. Gerade auch neurodivergente Kinder stoßen in unserem Bildungssystem, was nebenbei gesagt ja auch für neurotypische Kinder nicht wirklich immer ideal ist, an Grenzen, an Mauern und an Frustration.

Zum Inhalt des Buches

Saskia, Lehrerin, selbst neurodivergent und Mutter neurodivergenter Kinder bietet in dem Buch Hintergrundwissen zu verschiedenen Diagnosen, beschreibt den Weg zu diesen Diagnosen und bietet Hilfen für Familien, aber auch für Pädagogen an. Also das Buch ist nicht nur für Familien mit neurodivergenten Kinder ein Wissenschatz, sondern auch für alle Menschen die neurodivergente Kinder begleiten, ob im Kindergarten oder in der Schule.

Wie man diese Kinder wertschätzend begleiten kann, welche Fördermöglichkeiten es gibt, wie man das Selbstbild stärken kann, ein ganz, ganz wichtiges Thema bei neurodivergenten Kindern, genau darum geht es in diesem Buch.

Das Buch ist sehr gut gegliedert und lässt sich dadurch sehr gut lesen, oft nimmt Saskia die Fragen aus ihrer Community auf, was den Praxis und Alltagsbezug gut widerspiegelt. Oft kam mir beim Lesen so manchmal eine Frage zum Text, die dann fast genauso als Frage im Buch auftauchte. Also als Mutter von neurodivergenten Kindern fühlte ich mich sehr mitgenommen im Buch.

Es werden praktische Tipps gegeben, gerade auch für Pädagogen im Schulalltag und es wird beschrieben wie der Alltag oftmals ist und welche Hürden und Hindernisse zu überwinden sind.

Das Ziel des Buches, das Gold im Kopf zu finden und vor allem neurodivergenten Kinder ihre Neurodivergenz als Plus und nicht wie viel zu oft vorkommt meist als Manko erleben, kommt man durch Wissen und Hilfen im Buch hoffentlich sehr nahe!

Absolute Leseempfehlung dieses Buch, das sollte eigentlich alle mit Kindern arbeitenden Menschen lesen.

Unser Leben und Reisen mit neurodivergenten Kindern

Ich als absolut neurotypischer Mensch bin hier in der Familie von neurodivergenten Menschen umgeben, mehrere der vier Kinder sind diagnostiziert neurodivergent, eines mehrfach neurodivergent, der Mann des Hauses ebenfalls neurodivergent. Da ist es hier eher die umgekehrte Welt ich muss mich also eher auf die überwiegende neurodivergente Familienwelt einstellen.

Aber was heißt das nun speziell für unseren Alltag?

Wir sind das erste Mal relativ jung Eltern geworden mit 22 Jahren, voller Erziehungsidealen, viele Bücher gelesen, Tipps von den Eltern bekommen, wie es halt so ist! Wir setzten unsere Ideen der Erziehung gut um, hatten sehr strukturierte, klassische Routinen und das passte alles Bestens, da ein ganz neurotypisches Kind. Dann kam das zweite Kind und da merkten wir schon uii, da passt dann doch nicht mehr alles so einfach und nach Schema, da klappte das Essen nicht nach Schema F usw., aber wir passten unseren Erziehungsstil ebenso an, es entwickelte sich immer mehr eine bedürfnisorientierte Erziehung, ohne das wir damals wussten, dass das so heißt. Auch unsere Auswanderung nach Norwegen und dem Kennenlernen des skandinavischen Umgangs mit Kindern hat uns da viel geholfen. Die neurodivergenten Eigenheiten hielten sich aber in Grenzen, die grössten Schwierigkeiten traten dort erst in der Schulzeit auf, was aber durch das norwegische Schulsystem, gut aufgefangen wurde, trotzdem gab es natürlich immer Schwierigkeiten, aber die Schulzeit wurde gut abgeschlossen.

Bei Kind 3 zeigte sich die Neurodivergenz dann viel, viel stärker, obwohl wir erst sehr, sehr spät(fast zu spät) die Diagnose erhielten, dann noch andere Diagnosen dazu kamen. Der Satz: Bei Neurodivergenz ist es dann vorbei mit der Selbstverständlichkeit des Alltags, stimmt dort ganz genau.

Hier kommen jetzt mal ein paar Beispiele aus unserem Alltag:

Kleidung:

In Norwegen ist der Goldstandard im Kindergarten in der kälteren Jahreszeit, als unterste Schicht Wolle anzuziehen, ohne sieht man kein Kind im Herbst und Winter. Das ist auch eine wunderbare Sache, nur mit unseren Kindern ging das nicht, selbst die beste Mischung mit Seide, die eigentlich nicht mehr juckt, konnten die zwei Kinder nicht ertragen, es juckte sie ohne Ende. Alle Marken und Preiskategorien wurden ausprobiert, ständige Diskussionen mit den Erziehern geführt, Wolle ging für unsere Kinder einfach nicht. Die Erzieherinnen dachten sicher, das sind wieder die unwissenden Deutschen, die wollen das nicht verstehen. Wir einigten uns dann auf Fleecesachen, damit kamen sie dann immer gut über den Winter.

Kratzige Sachen, bestimmte Nähte an Kleidung gehen schwer bis gar nicht, zumindest Jeans gehen inzwischen langsam besser, aber nicht an allen Tagen. Bequeme Kleidung, am besten vielleicht kuscheliger Einteiler sind hier sehr beliebt. Es kollidiert im Teeniealter dann mit der angesagten Mode, denn eigentlich möchte man ja nicht anders sein wie die anderen.

Kind beim fotografieren mit Glaskugel
Caps/Mützen/Kapuzen geben Sicherheit und schirmen ab

Was schon immer wichtig war, waren Kopfbedeckungen ob Mütze oder Kapuzen, einfach zum sich abschirmen, sich sicher fühlen. Da finde ich den Ansatz den Saskia als Lehrerin vertritt so schön, das Kapuze oder Mütze gerne auch im Unterricht getragen werden können. Leider hier meilenweit von der Realität entfernt, obwohl es gerade für diese Kinder so wichtig wäre und nichts und rein gar nichts mit Respektlosigkeit zu tun hat.

Kleinkind mit Mütze
Schon immer waren Mützen und Kopfbedeckungen hoch im Kurs

Essen

Offenes Feuer Marshmallow grillen
Marshmallow am Feuer wird gern gegessen

Das große Thema Essen spielt ja bei vielen Kindern eine Rolle, aber bei neurodivergenten oft ganz besonders. Wir haben da nie Stress gemacht oder uns Sorgen gemacht, das hat schon mal viel entspannt. Ein Kind aß immer nur sehr ausgewählt, Phasenweise dann immer das selbe, da gab es mal eine Phase da gingen nur in der Pfanne gebratene Pommes mit Ei.

Gemüse nur roh, keine verschiedenen Konsistenzen zusammen, also Eintöpfe gingen nicht, pürierte Suppen schon. Da war auch nie was mit den guten Tipps, einfach mal das nicht geliebte Gemüse drunter schmuggeln, durch pürieren oder so, keine Chance das wurde sofort rausgeschmeckt und reklamiert.

Ein Kind hat seine Safe Foods, die gehen immer, das sind Nahrungsmittel auf die es sich verlassen kann, die immer gleich sind von Geschmack, Konsistenz, Aussehen und Geruch, häufig Fertiggerichte, wie TK Pizza, Instantnudeln oder auch Toastbrot. Dann hat es phasenweise einfach Lieblingsessen, die es jeden Tag essen könnte, bis die dann plötzlich auch nicht mehr schmecken. Auch das Kind isst Gemüse wenn dann eher roh, Obst ist teilweise schwierig, da darf dann wirklich nix dran sein, also keine Stelle oder irgendwie weicher als sonst.

Rezeptänderungen werden sofort rausgeschmeckt, übrigens auch wenn sich industrielle Nahrungsmittel rezeptmässig ändern.

Überraschungen und Geschenke

Gerade die Aufregung vor Weihnachten, Geburtstagen oder sonstigen besonderen Tagen ist immer sehr groß und fast nicht auszuhalten, was dann dazu führt das solche Tage dann in Tränen, Frust und Trauer enden, also zum Entgegengesetzten was diese Tage eigentlich bedeuten sollen. Daher haben wir so einiges bei uns angepasst, so strukturiert das wir alle Spaß an diesen Tagen haben.

Daher weiss das Kind im Prinzip was für Geschenke es bekommt, sie darf Wünsche äußern, wir besprechen was möglich ist und was sie bekommt. Sie freut sich dann genauso beim auspacken und ist glücklich, meist bekommt sie dann noch Kleinigkeiten die sie nicht erwartet und weiss, aber die Hauptsachen sind bekannt und dieses Sicherheit macht es ihr möglich ganz entspannt diese Tage zu genießen. Diesen Weg zu finden hat gedauert und war erst möglich, als sie älter war, da sie dann ausdrücken konnte warum sie an Weihnachten und Geburtstag immer so Schwierigkeiten hatte. Sie sagte es mal so: „Diese Ungewissheit, diese Unsicherheit zu wissen was ich geschenkt bekomme, das macht so ein Chaos im Kopf, das ich mich dann einfach nicht freuen kann!“ Jetzt freut sie sich genauso wie alle anderen obwohl sie weiss was sie bekommt, das funktioniert bestens für uns.

Genauso gehen Überraschungen eben eher nicht spontan, so plötzliche Änderungen sind immer schwierig und sind es dann noch grössere Sachen ist ein Meltdown vorprogrammiert. Da hätte dann niemand mehr Spaß dran und daher sind solche Sachen eher nicht so gut. Allerdings bereitet sie unheimlich gern Überraschungen für andere vor und ist da dann Feuer und Flamme diese Sachen vor zu bereiten und zu planen.

Reisen mit neurodivergenten Kindern

Wichtig für uns ist ja das Reisen und dass das auch mit neurodivergenten Kindern geht, auch mit unserer Reiseart haben wir ausgiebig getestet. Wie bei dem oben beschriebenen Überraschungen ist es auch mit Reisen speziell mit Interrail oder den von uns vorgezogenen spontanerem Reisen. Das ist nicht so einfach mit neurodivergenten Kindern, die dann vor allem Schwierigkeiten mit Übergängen und Überraschungen und dazu auch noch teilweise mit vielen Menschen an ungewohnten Plätzen haben. Da fällt so ein bisschen das ganz spontane Reisen, was Interrail eigentlich ausmacht weg.

Auch da mussten wir für uns Kompromisse schaffen, damit wir alle zufrieden sind auf Reisen. Nicht immer einfach aber wir haben da ja schon einiges geschafft. Wichtig ist immer klar zu kommunizieren was als nächstes passiert, wo wir wie hinfahren, wo wir übernachten, am besten vorher schon mal Fotos anschauen von der Stadt oder der Unterkunft. Wichtig ist auch immer zu erklären wie lange wie unterwegs sind. Dann immer auch die Wünsche der Kinder berücksichtigen, inzwischen ist sie groß genug, auch zu sagen eh stopp das wird mir zuviel, ich bleibe lieber in der Unterkunft geht ihr euch noch die Stadt anschauen oder so. Da wir immer offen kommuniziert haben, immer versucht haben das alle irgendwie ihre Wünsche erfüllt werden, soweit es möglich ist, funktioniert das bei uns ausgezeichnet.

So kleine Helfer wie Kopfhörer sind dann eine große Hilfe wenn es doch mal zuviel wird. Sich dann in die virtuelle Welt mit Handy oder Konsole zurück zu ziehen ist dann auch hilfreich und war es für uns auch schon in jungen Alter vom Kind.

Kind mit Kopfhörer und nintendo in der Bahn

Ein Kopf voll Gold

Mutter und Tochter Rückenansicht Ribe Dänemark

Um Bezug auf den Titel des Buches zu nehmen, erleben wir ganz viel von diesem Gold im Kopf der Kinder, es sind ganz oft ganz andere Perspektiven die wir gezeigt bekommen. Ein paar Beispiele was wir speziell durch das Leben mit unseren neurodivergenten Kindern zu schätzen gelernt haben:

  • Die kompromisslose Ehrlichkeit
  • Sichtweisen die mir neu sind
  • die Energie, das immer wieder versuchen Schwierigkeiten zu meistern
  • das sich durchbeissen
  • die unglaublich tiefen Gespräche, die immer wieder neuen Diskussionen
  • das alles Hinterfragen, sich nicht mit einfach Antworten abspeisen lassen
  • der ganz besondere Humor
  • die Neugier auf das Leben
  • die Kreativität, das Nutzen von Hilfsmittel um Schwierigkeiten zu meistern

Diese Liste ließe sich noch endlos fortsetzen! Ich hoffe dieses Gold im Kopf dieser Kinder wird immer wichtiger, immer besser erkannt, da ist dieses Buch ein gutes Schritt in die richtige Richtung, denn Aufklärung über Neurodivergenz ist so wichtig.

Habt ihr Erfahrungen mit Kindern mit Neurodivergenz? Oder seit ihr selbst neurodivergent? Dann schreibt gerne in den Kommentaren über eure Erfahrungen.

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