Inhaltsverzeichnis
Allgemeine Erklärungen und unsere ersten Erfahrungen
2005 ging es für uns nach Norwegen und eben nicht nur in ein anderes Land, sondern in ein anderes Leben, in eine alternative Lebensform. Wie es für uns in dem Moment super passte und uns damals gefiel. Wie es genau dazu kam haben wir hier beschrieben.
Es ging für uns in ein Camphill, ein Dorf mit Menschen die Unterstützung im Alltag und Leben brauchten, ob mit Diagnose wie Down Syndrom, Autismus oder andere Einschränkungen, ganz ohne Diagnosen. Es war ein Dorf mitten im Wald in Trøndelag, 16km von der nächsten grösseren Ortschaft entfernt, wunderbar in der norwegischen Natur gelegen mit eigenem kleinem See, also von der Lage ein kleines Idyll.
Camphill- Was ist das eigentlich?
Unser Camphill Jøssåsen landsby,war ein Dorf mit großem Kulturhaus, Stall und Bauernhof, verschiedenen Werkstätten(Keramik, Holz, Webstube, Buchwerkstatt(Werkstatt wo, die Epochenhefte für Waldorfschulen hergestellt wurden)) und 5 Familienhäusern, wo im Idealfall eine verantwortliche Mitarbeiterfamilie die Verantwortung für mehrere behinderte Menschen hatte, mit der Hilfe von einzelnen anderen Mitarbeitern, oft Zivis, FSJler oder Praktikanten. Man also wie in einem Familienverband lebte und arbeitete. Dann eben auch ein reges Dorfleben mit allen zusammen.
Das Ganze mit dem Hintergrund der Anthroposophie, wie bei Waldorfschulen, mehr dazu könnt ihr hier lesen.
Eine kurze Einführung was Camphill bedeutet:
Camphill-heilpädagogische Einrichtungen eben auf Grundlage der Anthroposophie. Die erste Camphill Community wurde 1939 von Karl König, einem jüdischen emigrierten Kinderarzt in Aberdeen gegründet.Also ursprünglich als heilpädagogische Einrichtungen für Kinder später kamen dann sozialtherapeutische Dorfgemeinschaften für Erwachsenen dazu. Heute gibt es weltweit über 100 dieser Gemeinschaften. In diesen Dörfern leben Menschen mit Behinderungen zusammen mit den Familien der Betreuenden Personen, so das Ideal. Sie arbeiten in Dorf eigenen Werkstätten oder Bauernhöfen, häufig biologisch-dynamisch und sollen sich eben mit den Fähigkeiten die sie haben ins Dorfleben einbringen. Was eigentlich ja eine super Sache und sehr inklusiv klingt, so die Theorie. Das Ganze eben auf der Basis des Menschenbildes der Anthroposophie und damit absolut kritisch zu sehen. Dazu natürlich immer auch Kunst und Kultur, darauf fußt die Anthroposophie.
Hier kurz zur Anthroposophie:
Anthroposophie, die "Weisheit vom Menschen" wörtlich übersetzt. Eine von Rudolf Steiner(1861-1925) gegründete Weltanschauung und auch deren Schulungsweg. Ein aus Goethes Weltanschauung des deutschen Idealismus, christlicher Mystik, der Gnosis, östlichen Lehren und noch etwas von Steiners zeitgenössischer Naturwissenschaft bestehendes Konglomerat. Es ist eine okkulte "Geheimwissenschaft", von der Rudolf Steiner mit "Hellseherorganen"gesehen und erforscht hat. Er war also ein Hellseher, der all diese Dinge "gesehen"hat. Ein wichtiger Punkt bzw. eben der zentrale Punkt der Anthroposophie ist die Entwicklung des Menschen übersinnlich und spirituell zu sehen,sich dabei aber von östlichen Lehren abzugrenzen. Gleichzeitig ist Anthroposophie auch Erkenntnisweg zur wissenschaftlichen Erforschung des "Geistigen", durch Meditation, Konzentration und Anleitung eines erfahrenen Lehrers soll man ein Schauen "höherer Sphären" erlangen können. Steiner war ein sehr umtriebiger Mensch, so gibt es 28 Schriften und ungefähr 5900 von ihm gehaltene Vorträge und zwar zu den meisten Lebensgebieten, die es so gibt. So hat sich die Anthroposophie auch in die verschiedensten Bereiche entwickelt, die bekanntesten sind wohl die Waldorfschulen, die biologisch dynamische Landwirtschaft(DEMETER) wie auch in der Medizin und auch in der Heilpädagogik.
Struktur des Camphill
Jedes Camphill ist unabhängig, wie es sich selbst organisiert und strukturiert, ich schreibe hier, wie wir es in unseren Jahren von 2005-2011 im Camphill Jøssåsen landsby erlebt haben. Wie es uns damals vorkam ein eher modernes Camphill, das gar nicht so viele „hardcore“ Anthroposophen hatte, das haben wir bei Besuchen in anderen Camphills ganz anders bemerkt haben.
Es waren ca.20-25 zu betreuende Menschen, sogenannte Dörfler und eine ähnliche Anzahl an Mitarbeitern im Dorf. Dazu hatte das Camphill noch einige Tagesplätze in den Werkstätten, die von der Kommune sehr gut bezahlt wurden.
Wie in anthroposophischen Kreisen üblich und gewünscht, ist die Selbstverwaltung dieser Einrichtungen ein Standard, d.h.es gibt keine Chefs, flache Strukturen (also theoretisch).
Es gab neben der gesamten Dorfgemeinschaftsrat, der einmal wöchentlich stattfindenden Jøssåsen møte(Versammlung), wo alle Bewohner des Camphills teilnehmen können, wo Sachen besprochen werden die so im Alltag anliegen.
Dann gab es eine Mitarbeiterversammlung für alle Mitarbeiter:innen, einen landsbyråd(Dorfrat) der längerfristige Mitarbeiter:innen einschloss, zu dem man aber erst nach Jahren eingeladen werden konnte, aus diesen Rat wurde eine Leitungsgruppe erst bestimmt, in späteren Zeiten dann „gewählt“, gewählt in Anführungszeichen, da bei einer von uns erlebten Wahl zwei Mitarbeiter dieselbe Stimmzahl bekamen, aber eine der Personen den Dorfältesten nicht passte, also dieser Mitarbeiter einfach nicht berücksichtigt wurde, mit fadenscheinigen Ausreden. Obwohl gut und gerne eine Person mehr in dieser Leitungsgruppe nicht gestört hätte und später auch einer mehr drin war.
Dazu kamen dann noch einzelne spezielle Treffen, wie Treffen der Hausverantwortlichen, der Werkstattleiter und viele andere. Man konnte also wirklich Stunden in irgendwelchen Treffen und Versammlungen verbringen und endlos diskutieren. Denn es gab auch keine Mehrheitsbeschlüsse, sondern Ziel waren Konsensbeschlüsse.
Mitarbeiterstruktur
Es wurde ganz klar immer zwischen Kurzzeit- und Langzeitmitarbeitern unterschieden, d. h. Praktikanten, damals noch viel Zivildienstleistende oder FSJler, also viele aus Deutschland oder andere, die immer nur ein Jahr blieben. Dann gab es noch einige angestellte norwegische Mitarbeiter:innen, die in den Werkstätten arbeiteten, dort oft die Leitung hatten, diese hatten normale Angestelltenverträge und dann gab es noch die Mitarbeiter:innen, die eben nicht nur dort arbeiteten, sondern auch im Dorf lebten und im besten und beliebtesten Fall noch Anthroposophen waren, das Ganze dann noch als Familie.
Auch von diesen ständig im Dorf lebenden Mitarbeitern gab es dann im Prinzip immer (unausgesprochene) Unterschiede, nämlich die zwischen Anthroposophen die schon ewig in Camphills lebten und vielleicht noch Familie von den Gründungsmitgliedern der norwegischen Camphills, also im Prinzip die Kinder oder Enkel dieser Gründer. Eine der Gründerinnen der Camphills in Norwegen war auch öfter im Dorf und über diese Person schreibe ich später mehr. Dann gab es die Anderen ohne anthroposophischen Hintergrund, vielleicht sogar ohne Ambitionen sich der Anthroposophie zu nähern. Was aber nicht dem Ideal entsprach, man sollte sich schon mit der Anthroposophie beschäftigen, am liebsten vielleicht sogar Anthroposoph werden, wenn es auch nie so offen kommuniziert wurde.
Wenn man wie wir keine Anthroposophen waren, aber trotzdem Verantwortung für ein Haus bekam, also sowohl für die Bewohner wie auch für die Mitarbeitenden, dann wurde versucht, das wenigstens einer im Haus ein Anthroposoph war, damit die Anthroposophie im Alltag eine Rolle spielte. In den Waldorfschulen ist das ähnlich, da sitzen in den Leitungsgruppen auch immer Menschen mit gefestigtem anthroposophischen Hintergrund, auch wenn sie vielleicht nicht die geeignetsten Menschen dazu sind.
Ökonomische Gemeinschaft
Das Besondere, was Camphills ausmacht, jedenfalls sind sie so gedacht und gegründet worden, das man in einer ökonomischen Gemeinschaft lebt, d. h. man bekommt keinen Lohn für seine Arbeit, sondern man bekommt das was man finanziell benötigt. Die Grundbedürfnisse wie Miete, Strom, Lebensmittel werden gedeckt, sprich man wohnt ja in einem Familienhaus und isst und trinkt dort. Dazu hat das Dorf Autos verschiedenster Art die man sich teilt. Dazu gab es eine Tafel auf die man einträgt, wann man welches Auto benötigt bzw. konnte sehen ob jemand anderes schon eine Fahrt geplant hatte. Das funktionierte ausgesprochen gut.
Die betreuten Menschen waren von dem System nicht eingeschlossen, sie bekommen in der Regel Rente bzw. Sozialleistungen und bezahlen eine Pauschale für Miet- und Lebenskosten.
„Taschengeld“
Dazu gibt es für die Mitglieder der ökonomischen Gemeinschaft sowas wie ein Taschengeld bzw. wenn man bestimmte größere Sachen kaufen oder anschaffen möchte, muss man das anfragen und es wurde dann je nach Summe entweder von allen beschlossen oder derjenige, der die Verantwortung für die Finanzen hatte, gab seinen Segen oder auch nicht.
Offiziell bekommt man normalen Lohn, also vertraglich geregelt, bezahlt Steuern usw., praktisch geht das in ein Gemeinschaftsmitarbeiterkonto und man selbst bekommt das „Taschengeld“ oder eben das was man benötigt auf das eigene Konto.
Das kam uns sehr gelegen, eigentlich eine super Sache, wenn egal welche Ausbildung man hat, man einfach das bekommt, was man benötigt, also man nicht für Lohn arbeitet, sondern arbeitet weil man möchte und was man arbeiten kann und seine Grundbedürfnisse immer gedeckt sind, man sich nie einen Kopf um Miete, Strom und Lebensmittel machen muss und Extras auch möglich sind.
Probleme der ökonomischen Gemeinschaft
So weit die Theorie problematisch wird das, wenn dann Leute in Positionen sind, wo sie selbst darüber entscheiden, was sie bekommen. Ein Problem, was sich eben auch in der Selbstverwaltung von Waldorfschulen zeigt, wenn Menschen über Probleme entscheiden die selbst mit diesem Problem verbunden sind.
In dieser ökonomischen Gemeinschaft sieht man dann auch ganz deutlich die Unterschiede der Mitarbeiter:innen, so sind Praktikanten:innen bzw. die Mitarbeiter:innen, die nur kurz bleiben, bis zu einem Jahr grundsätzlich nur ein festgelegtes monatliches Geld, was damals 1500 NOK entsprach, also rund 150 €, wenn dort extra Wünsche aufkamen, mussten diese schon sehr, sehr begründet sein. Wenn man anfing und auch länger bleiben wollte, galt dieses feste Geld auch für diese Mitarbeiter im ersten Jahr. Auch wir sollten nur 1500 NOK anfänglich bekommen, also nur wir Erwachsenen, das war dann schon recht wenig. Das fiel dann auch irgendwann einer erfahrenen Mitarbeiterin auf, die sich dann dafür einsetzte und auch durchsetzte, dass wir dann doch 2000 NOK bekamen, was uns durchaus reichte. Nach einem Jahr oder später war es durchaus üblich, dann auch mehr zu bekommen, allerdings gab es da keine richtigen Regeln, als wir uns dann nach mehr wie zwei Jahren doch mal nach etwas mehr Geld erkundigten, die Kinder und die Ansprüche von ihnen wurden mit dem Alter durchaus höher und Norwegen ist nicht gerade günstig, bekamen wir eine ziemlich barsche Abfuhr mit der Begründung, wir hätten ja vom ersten Tag schon mehr Geld wie üblich bekommen. Später hatten wir dann 3000 NOK Taschengeld im Monat. Aber da merkte man schon das es eben doch Unterschiede gab.
So bekamen Mitarbeiter der Leitungsgruppe doch gerne mal regelmäßig die neuesten Apple Computer oder Iphones, ohne Diskussionen darüber im Dorfrat, während wir eben wegen einer Erhöhung des Taschengeld barsch angegangen wurden oder der Architekt durch und durch Antroposoph bekam natürlich alle Unterstützung um seine studierenden Kinder in Deutschland großzügig zu unterstützen und erhielt ein viel höheres „Taschengeld“ und darüber herrschte auch keinerlei Transparenz.
Wir mussten dann hart darum kämpfen, dass zum Beispiel schriftlich festgelegt wurde, dass Familien, die das Camphill mal verlassen, eine größere Summe Geld bekamen wie alleinstehende Personen und das lange bevor wir das Camphill verließen. Den Rücklagen für ein mögliches Leben nach dem Camphill waren natürlich nur mit Taschengeld nicht möglich, zumindest mit dem, was wir bekamen.
Familienhaus
Der Sinn eines Camphills, war das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen in einem Dorf bzw. in einem Haus, sozusagen in einem Familienverband im Idealfall. In dem jeder nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten mithilft gut zu leben,sozusagen eine umgekehrte Inklusion. Ein solches Haus sollte im besten Fall, den es kaum noch gab zu unserer Zeit im Camphill, aus einer verantworlichen Familie mit Kindern, dazu je nach Hausgröße noch weitere Mitarbeiter und eben den Menschen die Hilfe benötigen bestehen.
In unserem Camphill, gab es zu unserer Zeit 5 Familienhäuser, nur wir waren da als klassische Familie als Hausverantwortliche, auch Hauseltern genannt. In unserem Haus lebten 5 Menschen mit Behinderungen, neben uns gab es noch 2-3 Mitarbeiter.
Wir waren also verantwortlich dafür das die Betreuten gut versorgt waren, sprich je nach Hilfsbedarf, entsprechende Pflege oder Betreuung,manche brauchten Hilfe bei der Körperpflege andere nur Hilfe damit sie pünktlich zur Arbeit kamen, das war ganz unterschiedlich.
Es sollte also wie in einer Familie oder auch WG gelebt werden, mit gemeinsamen Mahlzeiten und auch sonst gemeinsamer Zeit, je nach Wunsch der Betreuten. Neben den Aufgaben im Haus hatten wir Mitarbeiter noch andere Aufgaben, einige halfen im Stall und hatten dann auch noch Arbeit in den Werkstätten oder im Haus.
Nach dem Frühstück ging es zur Arbeit in die Werkstätten, Mittagessen gab es im Haus, danach hatte man Mittagspause, bevor es dann am Nachmittag noch einmal in die Werkstätten ging. Alles nach dem was die Betreuten konnten und auch wollten. Es gab eine Webstube, eine Keramikwerkstatt, eine Holzgruppe(wo Feuerholz gehackt wurde und Arbeiten im Wald gemacht wurden), eine Buchwerkstatt, wo die Epochenhefte für Waldorfschulen hergestellt wurden,eine sehr beliebte Werkstatt, da es da „richtig“ auf Arbeit ging, denn die Werkstatt befand sich im nächst grösseren Ort 16km entfernt. Dann gab es noch eine Holzwerkstatt, eine Kräuterwerkstatt und eine Imkerei und kochen in den Häusern war auch immer eine Aufgabe.
Wir lebten also als Familie mit ca.8 Leuten zusammen, was natürlich immer an Herausforderungen bot. Wir hatten zwar Zimmer die in einer anderen Etage der sonstigen gemeinsamen Räume lag, aber trotzdem war man immer mitten drin, auch wenn man theoretisch frei hatte, den allein die Küche wurde ja gemeinsam genutzt.
Auch immer problematisch war, wenn neue Mitarbeiter, die oftmals aus anderen Ländern kamen, ein Großteil aus Deutschland, kein Norwegisch konnten die erste Zeit, dann waren wir nämlich total auf uns gestellt, denn frei war dann kaum möglich. Irgendwelche Vertretungen waren allein schon aus personeller Sicht nicht möglich, denn meist kamen die neuen Mitarbeiter auch noch zeitgleich, sodass das Sprachproblem oft in jedem Haus gleichzeitig auftrat. Wenn wir Glück hatten und das hatten wir ganz oft, konnten so nach 2-3 Monaten die neuen Mitarbeiter so gut Norwegisch und waren so gut eingearbeitet, dass sie die Verantwortung auch übernehmen konnten. Wenn man Pech hatte, hat das aber alles viel länger gedauert und bei manchen gaben wir die Verantwortung nie gerne ab.
Und diese drei Monate wo man im Prinzip nie richtig freimachen konnten, hatte man dann jedes Jahr, meist so ab August/September aufs Neue.
Soweit erst einmal das Allgemeine zu Camphills, wie es uns dann genau erging und was für manch wirklich skurrile Sachen wir erlebt haben, gibt es dann im nächsten Beitrag. Also Fortsetzung folgt.